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Title
Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk


Editor(s)
Bois, Marcel; Reinhold, Bernadette
Published
Extent
360 S., mit zahlr. Farb- und SW-Abb.
Price
€ 39,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Riccardo Altieri, Historisches Institut, Universität Potsdam

In seinem Aufsatz „Die biographische Illusion“ schrieb Pierre Bourdieu, dass das „soziale Altern […] unabhängig vom biologischen Altern“ verlaufe und folglich auch so interpretiert werden müsse.1 Diesem Plädoyer zu folgen, argumentiert der Soziologe Michael Corsten, hieße, Biographien in Diskontinuitäten zu erfassen.2 Das Medium des Sammelbandes eignet sich hierfür hervorragend und wurde von Marcel Bois und Bernadette Reinhold gewählt, um sich einerseits dem Leben und Werk der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) überhaupt annähern zu können und andererseits den Forschungsstand um ein Portfolio aus 22 Aufsätzen zu erweitern.3

Schütte-Lihotzky starb im Jahr 2000 wenige Tage vor ihrem 103. Geburtstag. In ihrem langen Leben wirkte sie auf zweierlei Weise aktiv an Entwicklungsprozessen mit: Sie war nicht nur Architektin, sondern auch engagierte Politikerin. Ihre geographische Heimat wechselte sie so häufig, dass ihr Leben nur als „transnational“ bezeichnet werden kann; ihre politische Heimat hingegen blieb seit 1939 immer dieselbe: die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ).

Der 18. Januar 2020 ist Schütte-Lihotzkys 20. Todestag. Ihm ging ein „kleine[r] Publikationsboom“ (S. 10) voraus, der im Anhang des Sammelbandes als Auswahlbibliographie festgehalten wurde (S. 346f.). In vielen Veröffentlichungen wird das Werk der Architektin auf zwei Projekte eingeengt, um ihre Biographie kompakt greifbar zu machen: Erstens schuf sie weltweit zahlreiche Kindergärten, zweitens war sie in der Zeit des „Neuen Frankfurts“, also zwischen 1925 und 1930, die Erfinderin der „Frankfurter Küche“. Empört gab sie später zu: Hätte sie gewusst, dass sie einmal nur darauf reduziert würde, hätte sie „diese verdammte Küche nie gebaut“ (zit. bei Bernadette Reinhold, S. 61). Karin Zogmayer schreibt in ihrem Beitrag gar, dass Schütte-Lihotzky vor der Konzeption der Küche nach eigenen Angaben „nie selbst einen Haushalt geführt und keinerlei Erfahrung im Kochen hatte“ (S. 17). Dies eröffnet den ersten von fünf Abschnitten des Bandes: den Komplex „Biografische und geschlechterhistorische Perspektiven“.

Es folgen Abschnitte zu „Stationen eines transnationalen Architektinnenlebens“, zu ihren wichtigsten Begegnungen innerhalb eines erstaunlichen Netzwerks und zur „politischen“ Schütte-Lihotzky, ehe der Band durch ein Kapitel mit der Überschrift „Kindergärten und Küchen: Reflexion und Rezeption“ abgerundet wird. Darin stellt Sebastian Engelmann das Werk der Architektin in den Kontext pädagogischer Erziehungsmodelle, wie sie von Friedrich Fröbel (1782–1852), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) oder Anton Hügli (geboren 1939) erdacht wurden. Einen ereignisgeschichtlichen Abriss von den 1920er-Jahren in Wien über die Frankfurter Jahre und die Zeit in der Sowjetunion bis zum Nachkriegs-Österreich liefert Christoph Freyer, mit Fokus auf „Bauten für Kinder“. Änne Söll legt eindrucksvoll dar, wie wenig in nahezu allen Ausstellungen weltweit auf die Rolle der Frau in der „Frankfurter Küche“ als vermeintlich Zuständige für Hausarbeiten eingegangen wird. Unter dem Schlagwort „de-gendering“ (S. 313) erläutert sie, wie die Kritik an dieser noch immer vorherrschenden Perspektive zugunsten der formalistischen Erzählung eines „modernen Designs“ in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Felder „Kind“ und „Küche“, die Schütte-Lihotzky letztlich vom Frankfurter Stadtbaurat Ernst May (1886–1970) zugewiesen worden waren, kommentierte die Architektin später, wie Marie-Theres Deutsch erwähnt, folgendermaßen: „[I]ch [habe] naturgemäß jede mir gestellte Projektaufgabe immer in systematischer Weise begonnen.“ (S. 332, dortige Hervorhebung)

Von 1915 bis 1919 studierte Lihotzky an der Kunstgewerbeschule in Wien, wofür nicht zwingend eine Matura erforderlich war, weshalb sie bis 1948 offiziell nicht als Architektin galt, wie Sabine Plakolm-Forsthuber feststellt. Sie ordnet die Vita der Österreicherin in einen größeren universitäts- und geschlechtergeschichtlichen Kontext ein, indem sie Liane Zimber, Friedl Dicker, Elisabeth Nießen, Friederike Domnosil und Margarete Fingerlos zum Vergleich gegenüberstellt. All diesen um 1900 geborenen Frauen war gemein, dass man ihnen erhebliche Hürden in den Weg stellte, ehe sie beruflich erfolgreich sein konnten. Nur „im jeweiligen Exilland“ machten jene, die vor der NS-Herrschaft flüchten mussten, „erstaunliche Karrieren“ (S. 51).

Nach dem Studium arbeitete Lihotzky für Adolf Loos an der Wiener Friedensstadt, wobei sie „Alternativen zu gängigen Wohntypologien schuf“, wie Sophie Hochhäusl schreibt (S. 72). In Wien wurde sie von May entdeckt, der sie nach Frankfurt am Main holte und ihr dort eine Arbeit als Beraterin für den kommunalen Wohnungsbau verschaffte. Sie galt als „erste Spezialistin Deutschlands und der Nachbarländer“ auf diesem Gebiet, hebt Claudia Quiring mit einem Briefzitat von May hervor (S. 87).

Als Schütte-Lihotzky und ihr Mann Wilhelm Schütte, den sie 1927 geheiratet hatte, 1930 auf Wunsch Mays in einem 17-köpfigen Team in die Sowjetunion eingeladen wurden, um dort am Aufbau eines modernisierten Staats mitzuwirken, ahnten beide noch nicht, dass sie sieben Jahre in Russland bleiben würden. Schütte-Lihotzky wurde „mit der Leitung der Abteilung für Kindergärten und Kinderkrippen betraut“, schreibt Christine Zwingl; Wilhelm Schütte war „für Schulbauten zuständig“ (S. 33). Dabei erhielt Schütte-Lihotzky stets schlechtere Arbeitsbedingungen, also kürzere Verträge und weniger Geld als ihr Mann. Thomas Flierl gelingt es in seinem Beitrag auf herausragende Weise, bekannte und unbekannte Archivalien aus internationalen Archiven derart gegenüberzustellen, dass diese Zeit nachvollziehbar wird. In Russland nahm Schütte-Lihotzkys Karriere, wie sie 1936 in einem Brief schrieb, „einen richtigen Aufstieg“ (zit. bei Flierl, S. 111). Die Eheleute wirkten am Aufbau der 120.000-Einwohner-Stadt Magnitogorsk mit, die südlich des Urals quasi aus dem Nichts entstand. Schütte-Lihotzky entwickelte nach eigenen Angaben „Zentralwäschereien, Badeanstalten, Säuglingsheime und Kindergärten“ (Brief vom November 1930, S. 122). 1937 musste sie mit ihrem Mann jedoch emigrieren.

Das Paar zog nach Paris und 1938 für zwei Jahre in die Türkei. Erst 1939 wurde Schütte-Lihotzky KPÖ-Mitglied, schloss sich dem Widerstand um Herbert Eichholzer (1903–1943) an und geriet selbst in Gefangenschaft. Das Exil – „eine Entscheidung zur Lebenssicherung […] und zugleich ein Dasein mit ungewisser Zukunft“ (S. 139), wie Burcu Dogramaci schreibt – endete nach der Festnahme in Wien mit einer mehr als vierjährigen Haft, zeitweise unter der Drohung der Todesstrafe. Den „Kampf gegen das NS-Regime“ hält Elisabeth Boeckl-Klamper fest. Schütte-Lihotzky war, so Bernadette Reinhold, „die wahrscheinlich prominenteste (österreichische) Widerstandskämpferin“ (S. 61).

Nach ihrer Befreiung in Bayern wurde sie ein zweites Mal „Opfer“, nun aber – zurück in Wien – der gesellschaftlichen Umstände: „Antikommunismus [war] in der Zweiten Republik zum parteien- und klassenübergreifenden Konsens“ gewachsen, konstatieren Monika Platzer (S. 140) und Manfred Mugrauer. Die Architektin erhielt kaum noch öffentliche Aufträge und so wuchs ihr politisches Engagement: „Von 1948 bis 1968 war sie Präsidentin des von der KPÖ unterstützten Bundes Demokratischer Frauen Österreichs“ (S. 268), wie Karin Schneider skizziert. In China kritisierte sie 1956 die Zerstörung alter Gemäuer auf Befehl der Partei und bestand damit, so Helen Young Chang, „den Lackmustest für Parteitreue“ (S. 158) nur knapp.

1960 bekam Schütte-Lihotzky ihren letzten Auftrag durch die Stadt Wien. Erst ab 1980 fand ihr Schaffen eine öffentliche Würdigung, die man ihr zuvor aus politischen Gründen verwehrt hatte. „Aber da war sie bereits zu alt, um als Architektin zu arbeiten“, schreibt Zogmayer (S. 24). Auch in der DDR, wo sie auf Wunsch Kurt Liebknechts ihr Know-how der Deutschen Bauakademie zur Verfügung stellte, wurde ihre beratende Tätigkeit letztlich nicht angenommen, wie Carla Aßmann schildert. Das ambivalente Verhältnis zwischen Schütte-Lihotzky und Otto Neurath (1882–1945) analysiert Günther Sandner. Antje Senarclens de Grancy erweitert das Netzwerk der Architektin noch um Fachkollegen wie Le Corbusier (1887–1965) oder Clemens Holzmeister (1886–1983). Sie bezeichnet die Phase, in der Schütte-Lihotzky gesellschaftlich isoliert war, etwas überzogen als „dumpfen Nachkriegsfunktionalismus“ (S. 203). David Baum stellt die Überlegung an, ob nicht der „überschattete[] Schaffenspartner“ (S. 209) Wilhelm Schütte oftmals als Koautor der Werke seiner Frau genannt werden müsste, auch nach der Trennung Anfang der 1950er-Jahre.

Die wohl spannendste Figur im Nachkriegsleben Schütte-Lihotzkys ist jedoch ihr zweiter langjähriger Partner Hans Wetzler (1905–1983). Über ihn ist weit weniger bekannt und ihre Beziehung wurde lange Jahre geheim gehalten, ehe sie nach der Wiederentdeckung der „lange Vergessenen“ (S. 9) in die Medien gelangte. „Weder er noch sie seien gefragt worden“ (S. 225), ob ihnen das recht war, bilanziert Marcel Bois unter Verweis auf einen wütenden Brief Schütte-Lihotzkys von 1982. Mit Wetzler, den sie 1937 in Paris kennengelernt hatte, verbanden die Architektin ein später Parteieintritt und die jahrzehntelange Linientreue, sei es in seinem Fall zur algerischen, französischen oder österreichischen KP und später zur SED oder in ihrem Fall zur KPdSU, der türkischen und der österreichischen KP. Wetzler lebte seit 1963 als Lektor und Übersetzer in Ost-Berlin (S. 231), wo Schütte-Lihotzky dann auch oft zu Gast war.

Marcel Bois und Bernadette Reinhold geben viele Anregungen zur weiteren biographischen Forschung: „Wenn er [d.h. der Sammelband] nicht nur neue Perspektiven auf Leben und Werk Margarete Schütte-Lihotzkys eröffnet, sondern darüber hinaus Impulse setzt, so hat er ein wesentliches Ziel erreicht.“ (S. 14) Mit ihrem ansprechend gestalteten, auch reich illustrierten Band ist der Herausgeberin und dem Herausgeber ein großer Schritt in diese Richtung gelungen.

Anmerkungen:
1 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Erika M. Hoerning (Hrsg.), Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 51–60, hier S. 58. Der Aufsatz erschien 1986 zuerst auf Französisch und 1990 in der Zeitschrift „BIOS“ erstmals in deutscher Übersetzung.
2 Michael Corsten, Biographie zwischen sozialer Funktion und sozialer Praxis, in: Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorie, Stuttgart 2009, S. 95–102, hier S. 98.
3 Vgl. auch die Sammelrezension von Marcel Bois, in: H-Soz-Kult, 17.01.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28133 (17.01.2020).

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